- Geschichten über und mit Depressionen Teil 2 -
Ein Laut reißt mich aus meinem seeligen Schlummer. Hat da was gejault? Etwas orientierungslos hebe ich den Kopf. Kurz einen Überblick verschaffen. Ok. Frauchen da. Freundin da. Wo bin ich? Ich richte mich auf und strecke mich. Auf meinem Platz. Ich muss wohl eingenickt sein. Das passiert mir häufiger. Bauchi kraulen und literweise Wasser verdauen machen müde. Und überhaupt schlafe ich eh ziemlich viel. Ist gesund. Da, wieder! Ich lege den Kopf schief und orte die Richtung, aus der das Geräusch kommt. Meine Freundin jault! Oh nein, was hat Frauchen jetzt schon wieder angestellt? Schnell nehme ich die Pfoten in die Hand und mache, dass ich zu meiner Freundin komme. Die beiden kann man ja echt nicht alleine lassen.
Als ich den Tisch erreiche, reicht Frauchen meiner Freundin gerade ein Taschentuch. Besorgt richte ich mich am Stuhl meiner Freundin auf und will gerade ganz liebevoll ihre Hand abschlecken, als sie diese wegzieht, um das Taschentuch zu nehmen. Böse werfe ich einen Blick zu Frauchen. So kann ich nicht arbeiten. „Schau mal, Cookie will dich trösten.“, sagt Frauchen da und ich wechsel schnell meinen bösen Blick zum Cookie-will-trösten-Blick. Ok da ist nicht sooo viel Unterschied dazwischen, aber beim Cookie-will-trösten-Blick ist der Mund offen und die Zunge draußen. Ich tröste nämlich mit Zunge. Am liebsten an der Nase, aber das mögen die meisten meiner Freunde nicht so. Ich versuche es trotzdem. Und wenn es nicht klappt, nehme ich was ich kriegen kann. Im Falle meiner Freundin war das ihre Hand. Leider kam nämlich kein anderer Teil in Reichweite. Sie streckt mir also die Hand entgegen, um mich zu streicheln und ich drehe blitzschnell meinen Kopf unter ihrer Hand hervor und schlecke mit vollem Einsatz drauflos.
Meine Freundin beginnt zu quietschen. „Iih das kitzelt!“ ruft sie und zieht die Hand wieder weg. Da war ich nicht so drauf vorbereitet, jedenfalls kann ich meine Zunge nicht so schnell stoppen und sie macht einfach weiter. Also mit dem Schlecken. Nur ohne irgendwas zum Abschlecken in der Nähe. Nach ein paar hilflosen Schleckrunden in der Luft habe ich meine Zunge wieder unter Kontrolle und bringe sie zum Stillstand. Ich blicke meine Freundin an. Sie wischt sich mit dem Taschentuch über die Augen. Aber sie jault nicht. Bin ich schon fertig? Nein, lieber auf Nummer sicher gehen und die Nase noch abschlecken. Dazu muss ich aber auf den Schoß. Mit der Pfote stupse ich meine Freundin an. Sie legt das Taschentuch zur Seite und blickt zu mir herunter. „Willst du hoch?“, fragt sie. Ja, sagt mein Blick. „Ich glaube das will er.“, sagt Frauchen und steht auf, um mir zu helfen. Warum können die auch nicht einfach auf dem Boden sitzen? Diese Stühle sind echt viel zu hoch. Kaum habe ich den Sitzplatz auf dem Schoß meiner Freundin erreicht, nehme ich auch schon mein Ziel ins Visier. Zunge raus, die Nase ist nah! Meine Freundin zieht quietschend und kichernd ihren Kopf zur Seite und meine Schleckattacke geht wieder ins Leere. Diesmal lasse ich die Zunge einfach im Dauerschleckmodus, während ich versuche nachzujustieren und die Nase doch noch zu erwischen. Da! Nein. Da! Nein. Da! Verflixtnocheins, ich erwisch diese Nase einfach nicht! Frustriert ziehe ich die Zunge ein, seufze theatralisch und lasse mich auf den Schoß plumsen. Meine Freundin hält gerade noch rechtzeitig meinen Hintern fest, bevor er vom Schoß rutschen kann. Also ich weiß ja nicht. Werden die Schöße immer kleiner oder mein Hintern immer … Stopp, darüber will ich jetzt nicht nachdenken. Nicht dass Frauchen mich wieder auf Diät setzt. Schnell rappel ich mich wieder auf und springe auf den Boden, um mich an den Füßen meiner Freundin zusammenzurollen. Der Boden ist jedenfalls groß genug für meinen Hintern, also kein Grund zur Sorge. Oder für ne Diät. Ich lege den Kopf zwischen meine Pfoten und lausche dem Gespräch der Beiden. Nicht dass Frauchen wieder irgendeinen Mist baut. Da muss ich schon aufpassen.
„Das ist nicht deine Schuld.“, sagt Frauchen gerade. Die Stimme meiner Freundin beginnt bedrohlich zu zittern, als sie antwortet. „Wenn ich nicht so blöd reagiert hätte und nicht alles immer so negativ sehen würde, dann wäre das alles eben nicht passiert und ich hätte keine Depression und das alles. Also ist es doch meine Schuld.“ Empört hebe ich den Kopf. Bitte was?
Ja, so ne Depression ist doof, die will niemand haben. Zum Glück ist das nicht ansteckend. Ich mag nämlich auch nicht so gerne depressiv sein. Dann ist nämlich alles doof. Ich bin doof, mein Leben ist doof, die Zukunft ist doof, Essen ist doof, alles ist doof. Und wenn alles doof ist, fühlt sich das echt nicht so gut an. Und genau deswegen ist auch niemand schuld an so einer Depression. Das wäre mir eh neu, dass eine Person alleine eine Depression verursachen kann. Wie gesagt, nicht ansteckend.
Ok, meine Liebe. Ich erklär dir mal, wie das funktioniert. Ich richte meinen Blick auf meine Freundin und erzähle ihr mit wissender-Therapiehunde-Miene eine Geschichte. Ja ok, so richtig erzählen kann ich nicht, aber Frauchen sagt auch immer wie wichtig „nonverbale Kommunikation“ in der Therapie wäre. Das heißt miteinander sprechen ohne zu reden. Und das kann ich gut:
„Also, wenn kleine Hunde aufwachsen, dann läuft das nicht immer alles glatt. Manchmal gibt’s Probleme in dem Zuhause in dem sie geboren werden, manchmal mit den Herrchen und Frauchen, die sie aufnehmen, manchmal haben die kleinen Hunde auch eine Krankheit, oder werden mal von einem viel größeren Hund gejagt und sterben fast vor Angst. Manchmal haben die Vorfahren der kleinen Hunde schon Probleme gehabt und manche armen kleinen Hunde werden unter dem Deckmantel der Hundeerziehung sogar geschlagen. Für alles, was nicht so glatt gelaufen ist, nimmt man sich einen Stein und stapelt diesen zu einem Turm. Dann haben die kleinen Hunde auch unterschiedliche Wesen. Manche sind ganz furchtbar sensibel, so wie ich, oder habe nie richtig gelernt mit Angst oder Wut umzugehen, wie mein Bruder. (Achja, von dem wisst ihr ja noch gar nichts, von dem erzähle ich ein anderes Mal) Auch dafür nimmt man sich einen Stein und baut den Turm noch höher. Dann nimmt man noch Steine für die Pubertät, für den Zoff mit Nachbarshunden, für das Schimpfen von Frauchen, wenn man was falsch gemacht hat und dir niemand was von seinem Essen abgibt. Es gibt Steine für ganz viele Dinge und irgendwann steht da ein Turm, höher oder niedriger, je nachdem wie viele Steine man gesammelt hat. So ein Turm kann das ganze Leben da stehen ohne umzukippen, aber manchmal ist er einfach zu hoch oder zu instabil und ein einziger, weiterer Stein reicht aus und der Turm fällt um. Dann hat man eine Depression. Das liegt jetzt nicht an dem kleinen Stein, der den Turm zum Einsturz brachte, sondern an der Summe und dem Gewicht der Steine. Manchmal sind die auch einfach nur viel zu schnell gestapelt worden. Das macht so einen Turm auch ganz schön instabil.“
Zufrieden beende ich meine Ausführungen und blicke erwartungsvoll von unten gegen die Tischkante. Dummerweise kann ich meine Freundin so gar nicht sehen. „Sie haben ja recht, ich habe wohl wieder die depressive Brille ausgepackt, ohne es zu merken.“, sagt meine Freundin da. Zufrieden will ich mich schon wieder hinlegen, als mir auffällt, dass sie gar nicht mich gemeint hat. Hat Frauchen etwa doch mal was Vernünftiges gesagt? Etwas skeptisch sehe ich zwischen den Füßen von Frauchen und meiner Freundin hin und her. Ach was solls. Wir sind halt doch ein Team, Frauchen und ich. Und wir haben eine Mission.
Bei meiner Freundin ist der Turm nämlich nicht nur umgefallen, sondern hat sie auch gleich noch unter sich begraben, so viele Steine waren das. Und ich und Frauchen tun jetzt unser Bestes, sie wieder auszugraben, ihr auf die Beine zu helfen und die Steine ordentlich aufzuräumen. Mit Steinen kann man nämlich auch einen schönen Weg pflastern. Und auf einem Weg kann man gehen, schnüffeln und wenn man etwas wirklich Spannendes findet, das Beinchen heben und ordentlich draufpinkeln. Ja ok, das wird meine Freundin wohl etwas anders regeln… Mmh, ihr wird schon etwas einfallen, wenn sie erst einmal losgegangen ist. Vorsichtig lege ich meinen Kopf auf einen Fuß meiner Freundin und schließe langsam meine Augen.
Zu Beginn einer Therapie kommt häufig die Schuldfrage auf. Eltern fragen sich was sie falsch gemacht haben, genau wie die Kinder und Jugendlichen selbst. Dabei ist das die falsche Frage. Menschen machen Fehler, das gehört zu unserem Dasein und macht uns auch erst menschlich. Aber diese Fehler sind niemals „schuld“ an der Depression. Sie sind vielleicht ein Stein von vielen in diesem Turm.
Der Turm, den Cookie in seiner Metapher beschriebt, heißt im Fachjargon „Vulnerabilitäts-Stress-Modell“ und wird für die Entstehung der meisten psychischen Erkrankungen in der Verhaltenstherapie herangezogen. Es heißt deswegen Modell, weil es eine Theorie ist. Tatsächlich wissen wir noch viel zu wenig über die Entstehung psychischer Krankheiten, um wirklich sicher zu sein, wie und warum diese entstehen. Es konnten „Risikofaktoren“ identifiziert werden, also Faktoren die häufiger bei depressiv Erkrankten auftreten, aber für sich nicht zu einer depressiven Erkrankung führen. Und es wurden Hypothesen aufgestellt, über die Rolle von Botenstoffen im Gehirn, bei der Depression insbesondere die Rolle des Serotonins. Hier setzen auch medikamentöse Behandlungen an.
Bei all den Fragen und Ungewissheiten wissen wir aber eines: Niemand ist schuld an seiner Depression. Und die Erkenntnis darüber kann der erste Schritt auf diesem neuen, steinigen Weg sein.